Gesellschaft

Wir haben es in der Hand! Nein, du nicht und ich auch nicht. Alleine sind wir eine Stimme, die sich im Chor anpasst oder aus der Art schlägt. Aber wenn wir, als Gesellschaft, keine Gemeinschaft bilden. Wenn wir gar keine Gemeinschaft sein wollen, dann gehen in diesem Chor der Millionen Stimmen einfach so verloren. Doch sie sind hier. Du bist hier!

In einer Gesellschaft, die vergessen hat den Menschen an oberste Stelle zu stellen, und zwar so, wie wir sind. In so einer Gesellschaft werden diese Millionen Stimmen traurig, stumm und am Ende platzt vielleicht noch die Wut aus uns heraus, als letzte Chance. Ich will leben!

Wieso bin ich hier? Welchen Sinn hat dieses Leben?

Menschen suchen sich selbst und den Sinn ihres Lebens. Das steckt so tief in uns und bleibt eine Sehnsucht, oder wird erfüllt. Es gibt keine glücklichen Menschen, die sich nicht selbst in ihrem Leben gefunden haben, das wie ein Maßanzug auf sie zuge­schneidert ist. In der Massenware von der Stange leben wir, so gut es eben geht, aber ohne dieses innere Feuer und ohne je zu erfahren, wie es ist, wenn man einfach vom Fluss des Lebens mit­gerissen und getragen wird.

Ja, natürlich geht das Leben auch regel­mäßig schief. Und genau dafür sind wir eine soziale Gesellschaft, in der wir einander auffangen. In der Partner­schaft, in der Familie, in der Firma, im Verein oder im Staats­wesen. Was, wenn das Leben einen Moment alles gegen uns zu richten scheint, und niemand trägt uns ein Stück, zurück ins Glück? Das sind die „Existenz­ängste“, die wir alle mehr oder weniger spüren. Und die können wir uns nur gegen­seitig nehmen!

Gesellschaft ist entweder ein soziales Mit­ein­ander, in dem wir uns Raum und Zeit geben, oder ein Konkur­renz­kampf gegen­einander.

Beruf(ung)

Bevor wir in dieses Thema eintauchen, möchte ich noch kurz einen Irrtum auf­klären. Denn aus gewachsener Tradition glauben wir, es sei sozial, Menschen Almosen zu geben, wenn sie gefallen sind. Das stimmt natürlich auch, dass ein Sozial­staat alle Menschen auf­fängt und mit­nimmt. Aber wenn wir es nicht schaffen, dass so ein Absturz die bedauer­liche, seltene Ausnahme bleibt, haben wir als Sozial­staat jämmerlich versagt!

Als es bei mir an den Schul­ab­schluss ging, gab es die soge­nannten „Step Hefte“. Das war eine Art Selbst­test, in den 80er herausge­geben vom Bundes­ministerium für Bildung und Wissen­schaft, in dem man für sich passende Berufe finden konnte. Das ging über Fragen, was einem eher liegt. Möchtest du drinnen oder draußen arbeiten? Möchtest du lieber alleine oder im Team arbeiten? … Es ging um dich und das, was zu dir passt. Und am Ende bekam man mögliche Berufe genannt.

Die Philosophie dahinter war, dass der Mensch mit seinen Interessen und Talenten in Berufe passt. Das diese Berufe solch passende Menschen braucht und sucht. Und dass es im Großen und Ganzen so ist, dass dieses Bedürf­nisse zusammen passen. Also ja, es gibt zu jedem Beruf Menschen, die für diesen Beruf geschaffen sind. Und es gibt ebenso für jedem Menschen Berufe, die für sie Berufung sind.

Jetzt könnte man meine, das gelte doch immer noch. Natürlich müssen passende Mit­arbei­ter:innen und deren Berufe zuein­ander finden. Doch es ist ja unüber­sehbar, am Symptom „Fachkräfte­mangel“, dass dem eben nicht mehr so ist. Und, nachdem das 20 Jahre vor­aus­zu­sehen war, legt das jetzt schön langsam unsere Wirtschaft lahm.

Die Gründe für dieses Fiasko sind viel­schich­tig. Doch eine Ursache ist eben die Abkehr von der Philosophie, dass Mensch und Arbeits­welt harmonisch zusammen passen und finden müssen, wenn das lang­fristig und nach­haltig funktionieren soll.

Heute wurde der Mensch von einem talen­tierten Glücks­fall für die Wirtschaft zu einer beliebigen Austausch­ware herab­ge­würdigt. Einem Wegwerf­artikel, von dem ja noch genügend da sind, und den man sich zurecht­stutzt und verbraucht. Du bekommst das Gefühl vermittelt, dass da genug Konkur­renz da ist, die deinen Platz ein­nehmen kann. Also ist ein Job so eine Art Gewinn in der Lotterie! Und wer eine Niete zieht – macht nichts, dann parkt man dich halt im Bürgergeld.

Rückblick

Unter „Krieg und Frieden“ ist die Ent­stehungs­geschichte dieser Ent­würdi­gung bereits beschrieben. Hier geht es mir jetzt darum, wieso das von vorn­herein zum Scheitern verur­teilt war. Und welcher Gedanke da­hinter stand und leider immer noch steht.

Im Laufe der Moderni­sierung nahm die übliche Wochen­arbeits­zeit ab, beginnend von etwa 72 Stunden um 1875 bis zu ersten gesetz­lichen Regelungen mit 6-Tage- und 48-Stunden-Woche ab 1918 bis zur heutigen 40-Stunden-Woche. Die 40-Stunden-Woche gab es in Deutschland in der DDR ab 1950. In der BRD wurde sie von 1956 bis 1974 schritt­weise einge­führt. Er­möglicht wurde diese Veränder­ung durch die gestiegene Produk­tivität der Arbeiten­den. Mit der Moderni­sierung stieg unsere Produk­tivität nämlich auf das 7-Fache an!

Gehen wir mal in das Jahr 1875 zurück, als man noch 72 Stunden die Woche schuftet, und teilen das durch 7. Dann würden wir heute dieselbe Leistung in einer 10,5-Stunden-Woche vollbringen. Nun haben sich natürlich unsere Bedürfnisse gewandelt und mit den Möglich­keiten, entstehen neue Be­gehr­lich­keiten. Aber generell ist un­über­sehbar, dass wir keine 40-Stunden-Woche mehr brauchen. Voraus­gesetzt alle, die könne, arbeiten mit, dann würde eine 30-Stunden-Woche mehr als ausreichend sein. Und genau daran scheitern wir momentan: an dem Problem, dass viel zu viele Menschen aus der Arbeits­welt ausge­sperrt wurden.

Der Fachkräfte­mangel ist die logische Konse­quenz einer Wirt­schafts­politik, die dieses Potenzial der gestei­gerten Produk­tivität in Negative verdrehte. Statt die Arbeit auf alle zu ver­teilen, setzte man lieber auf die Spaltung: Die Hälfte macht man arbeits­los und die andere Hälfte setzt man mit drohender Arbeits­losig­keit und Armut so unter Druck, dass sie miese Beding­ungen und Lohn­dumping schlucken.

Kurzfristig mag das ja Ein­sparung und fettere Renditen bringen. Jetzt ist dieses Stroh­feuer jedoch abge­brannt, und alles, was bleibt, ist ein riesiger Schaden. Ein Schaden, den man auch nicht eben so mal wieder lösen kann. Und so stehen wir jetzt an dem Punkt, an dem wir uns endlich ent­scheiden müssen, was wir wollen. Möchten wir end­gültig ab­stürzen und den Sozial­staat end­gültig beerdigen, weil das auf Dauer unfinan­zierbar wird? Oder möchten wir unseren Kurs umkehren und wieder zu einer gesunden Gesell­schaft und Arbeits­welt finden? Was auf jeden Fall noch einige Jahre Durst­strecke bedeuten wird, wenn wir diesen Schaden reparieren möchten.

Fachkräfte, möglichst noch mit 20 Jahren Berufsshy;er­fahrung, bekommt man eben nicht schnell mal wieder an den Start. Und wir haben heute in manchen euro­päischen Ländern eine Jugend­arbeits­losig­keit von 50% und mehr. Junge Menschen, denen die Chance genommen ist, über­haupt erst mal ihren Weg ins Berufs­leben hin­ein­zu­finden. Das ist es, was sich zu aller erst ändern muss.

Ausblick

Der jetzige Fachkräfte­mangel ent­stand auf viel­schich­tige Weise. Das Handwerk leidet unter einem schlechten Image. Junge Menschen machen kaum noch Erfahr­ungen, in denen sie die Liebe zu einem Beruf entdecken könnten. Wir scheitern auch am un­passenden Bildungs­system, das weder das richtige ver­mittelt, noch richtig funktio­nieren würde. Diese Liste könnte man beliebig fortsetzten.

Der fatalste Punkt ist jedoch die Perspektiv­losig­keit und das, was man als „mangelnde Durch­lässig­keit sozialer Schichten“ bezeichnet. Der Begriff „sozialer Schicht“ ist an sich schon menschen­verach­tend, als seien wohl­haben­dere Menschen irgend­wie sozialer. Genauso wie „prekäre Beschäf­tigung“ im „Billig­lohn­sektor“. Das ist schlichter Faschismus, in dem man einfach alle Menschen einer Berufs­gruppe zu den neuen Unter­menschen erklärt!

Wir als Gesell­schaft haben diese Ent­würdi­gung zuge­lassen. Und wir alle tragen die Verant­wortung, diesen Spuk hier und jetzt zu beenden!

Wirtschaft vs. Soziales?

Dieses Bild lügt, das so tut, als seien wirt­schaft­liche und soziale Inter­essen von Natur aus Gegen­sätze. Alle Händl­er:inne der Welt wissen, dass sie weder ihre Liefer­ant:innen aus­hungern, noch ihre Kund:innen mit über­zogenen Preisen aus­nehmen können. Wer das tut, zerstört sich seine eigenen Markt!

Das, was wir momentan betreiben, ist kein Kapitalismus mehr, auch wenn das die offizi­elle Be­zeichnung dieses Treibens sein mag. Denn im Kapitalismus sind gesunde, gut ausge­bildete und leistungs­fähige Menschen eine der drei Säulen des Kapitals. Des­wegen heißt das Personal­wesen im Englischen auch „Human Resources“, weil wir Mit­arbei­ter:innen das wichtigste Kapital unseres Unternehmens sind. Ohne uns, hilft keine noch so tolle Maschine, nicht alles Geld der Welt oder was auch immer. Und sollten jetzt Zweifel auf­kommen, denke an das Fiasko des Fach­kräftemangels!
 

Als zivilisierte und kultivierte Gesell­schaft brauchen wir alle Menschen. Und wir können es uns gar nicht leisten, die Hälfte unserer Mit­menschen und deren Potenziale auf das Abstell­gleis abzu­schieben. Aber genau das ist geschehen! Wes­wegen wir uns nun fragen müssen, wie wir diesen Fehler jetzt wieder korrigieren können.

Das wird natürlich nicht einfach mal im Vorbei­gehen gesehen: Die Regierung nimmt Geld in die Hand und startet ein Programm, und dann … In diesem Fall ist der Weg raus genauso lange, wie der Weg hinein. Und die Kinder von heute werden dann die ersten sein, die von Schul­be­ginn an die nötige, volle Unter­stütz­ung erhalten haben werden. Erst dann startet eine neue Generation un­be­schwert durch.

Ja, es ist wie mit vielen Dingen: „Gut Ding will Weile haben!“ Es ist jedoch auch so, dass der Wandel in dem Moment statt­findet, in dem man einen neuen Weg beginnt. Der Wandel mag sich erst über die Jahre umsetzten, aber der neue Geist trägt uns von Anfang an. Und der jetzige Geist drückt uns nieder. Der jetzige Ungeist macht uns krank, psychisch kaputt und treibt uns in den Burnout.
 

Einigkeit und Recht und Freiheit.

Demokratie